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Trockenbearbeitung – Chance oder Irrweg?

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Trockenbearbeitung – Chance oder Irrweg?

Die Diskussion um die Trockenbeabeitung erlebt derzeit eine Renaissance. Ist das Bearbeiten ohne Kühlschmierstoff eine große Chance für wirtschaftlicheres Fertigen in Zukunft, oder wird es ein exotisches Verfahren für spezielle Anwendungsbereiche? Wir sprachen darüber mit Roland Beuchler, Leiter Entwicklung und Konstruktion Werkzeuge bei der Walter AG in Tübingen.

mav: Trockenbearbeitung wird seit einigen Jahren als wirtschaftliches und hinsichtlich der Umweltauflagen unproblematisches Verfahren propagiert. In welchen Bereichen sehen Sie derzeit realistische Chancen für das Umstellen auf Trockenbearbeitung?

Beuchler: Bei allen Bearbeitungen, die eine gute Späneabfuhr ermöglichen, wird die Trockenbearbeitung bereits jetzt bevorzugt eingesetzt. Hierzu gehört z.B. die Außenbearbeitung beim Drehen und Fräsen. Für den Schneidstoff Hartmetall ist zudem eine Trockenbearbeitung gut geeignet, weil vor allem bei unterbrochenem Schnitt die durch Kühlschmierstoffe hervorgerufenen Temperaturwechsel wegfallen. In zahlreichen Fällen hat man durch Trockenbearbeitung sogar die Standzeiten der Hartmetallwerkzeuge wesentlich, manchmal sogar bis zum Faktor 10, erhöhen können. Darüber hinaus ist eine Trockenbearbeitung in zahlreichen Fällen auch wirtschaftlicher, obwohl wir die bisher veröffentlichten Zahlen zu Kosten und Einsparmöglichkeiten beim Einsatz von Kühlschmierstoffen bzw. Trockenbearbeitung nur schwer nachvollziehen können. Tatsache ist, daß durch Umweltauflagen, die oft mit hohen Kosten bei der Entsorgung der Kühlschmierstoffe verbunden sind, und durch ein stärker ausgeprägtes Gesundheitsbewußtsein der Wunsch besteht, mehr und mehr Bearbeitungen trocken auszuführen.
mav: Welche Einschränkungen muß der Anwender berücksichtigen, wenn er seine Fertigung auf eine Trockenbearbeitung umstellen will?
Beuchler: Zunächst muß man festhalten, daß nicht alle Bearbeitungen problemlos auf Trockenbearbeitung umzustellen sind. Wesentliche Einschränkungen liegen nach wie vor in den Bearbeitungsverfahren selbst. Zum Beispiel ist es bisher nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten möglich, bei tiefen Bohrungen trocken zu bearbeiten. Ähnliches gilt für das Fräsen von Aluminium, Titan und Magnesium. Bei letzteren tritt vor allem das Problem der hohen Spänetemperaturen und die Gefahr einer Entzündung der Späne auf. Bei kurzen Werkzeugeingriffszeiten kann man die Spänemengen noch kontrolliert abführen. Beim Fräsen großer Flächen mit langen Werkzeugeingriffszeiten kommt es allerdings meist zu so großen Spänemengen und hohen Spänetemperaturen, daß ohne Kühlmittel eine Selbstentzündung nicht ausgeschlossen werden kann.
Darüber hinaus neigen die überwiegend zum Aluminumbearbeiten eingesetzten, gelöteten Hartmetallschneiden zum Kleben. Entwickelt werden derzeit Diamantbeschichtungen, die keine Affinität zum Leichtmetall haben und deshalb nicht kleben. Diese Beschichtungen kann man allerdings bisher nur mit relativ großen Kantenverrundungen ausführen. Das beeinträchtigt dann wieder die Genauigkeit beim Bearbeiten. Man kann z.B. nicht gratfrei bearbeiten. Unser Unternehmen ist dabei, Schneidstoffe und vor allem neue Beschichtungen zu entwickeln, um solchen Schwierigkeiten zu begegnen. Es ist heute schon möglich, Beschichtungen aus bis zu 2000 Einzellagen aufzubringen. Bei einer solch großen Kombination unterschiedlicher Beschichtungsstoffe ist es natürlich möglich, ganz gezielt auf das jeweilige Verfahren und den zu bearbeitenden Werkstoff abgestimmte Eigenschaften dem Schneidstoff mitzugeben.
mav: Welche Empfehlungen können Sie dem Anwender für die Praxis geben, wenn er jetzt vermehrt Trockenbearbeitung einsetzen will?
Beuchler: Entscheidend für die erfolgreiche Realisierung der Trockenbearbeitung ist, den gesamten Verfahrensablauf zu betrachten. Hierzu gehört neben der Kombination Schneidstoff-Werkstück-Werkstoff die Maschine und deren Umgebung. Es ist nach meiner Einschätzung z.B. sinnlos, eine Transferstraße pauschal „trockenlegen“ zu wollen. Wenn bei mehreren aufeinanderfolgenden Bearbeitungsschritten in einer Transferstraße beispielsweise auch nur eine Bearbeitung unbedingt mit vollem Kühlschmierstoffeinsatz ausgeführt werden muß, bringt es nichts, die anderen auf eine Trockenbearbeitung umzustellen. Hier kann es eher zu besonderen Schwierigkeiten kommen. Wenn z.B. nur geringe Mengen des Kühlschmiermittels auf die stark erwärmten Werkzeuge der benachbarten „trockenen“ Station kommen, kann das durch den Temperaturschock schon vermehrt zu Kantenbrüchen an den Werkzeugen führen. Den gesamten Logistikaufwand für den Kühlschmierstoffkreislauf muß man ohnehin aufrechterhalten. Deshalb ist es dann besser, auch die übrigen Bearbeitungsschritte nach den bisherigen Erfahrungen weiterhin mit Kühlschmierstoff zu betreiben. Allgemein wird es nach unserer Meinung keine Mischformen zwischen Trockenbearbeitung und vollem Einsatz von Kühlschmierstoffen geben.
Darüber hinaus ist Anwendern auf jeden Fall zu raten, die Auswirkungen auf die Maschinen und das Umfeld im Detail zu betrachten und zu beurteilen. Wir haben z.B. beim Umstellen auf die Trockenbearbeitung bei einem Anwender die Erfahrung gemacht, daß die Späneförderer mangels einer Eigenschmierung nicht zum Fördern der trockenen Späne geeignet waren und nach kurzer Zeit den Dienst versagten.
Weiter müssen die Maschinen selbst, ob nun vertikale Bearbeitungszentren oder Bearbeitungsstationen in einer Transferstraße, so gebaut sein, daß die stark erwärmten Späne nicht auf horizontalen Flächen liegen bleiben und zu einer unzulässigen Erwärmung der gesamten Maschine führen. Neue Konzepte, wie Hexapoden und Tripoden, aber auch schon horizontale Bearbeitungszentren, ermöglichen den freien Spänefall ohne weitere konstruktive Maßnahmen. Der Wunsch nach Trockenbearbeitung wird damit in Zukunft neue Bauformen von Bearbeitungszentren, Dreh- und Fräsmaschinen beeinflussen.
mav: Welche Bearbeitungen kann ein Anwender heute ohne Bedenken auf Trockenbearbeitung umstellen?
Beuchler: Alle gängigen Dreh- und Fräsbearbeitungen an Außenkonturen bei Guß- und Stahlwerkstoffen können problemlos trocken ausgeführt werden. Vorsicht ist geboten beim Bearbeiten von austenitischen Stählen, hoch warmfesten Legierungen, bei Titan- und Magnesiumlegierungen und bei Aluminium.
Einfach haben es Einzelfertiger, Formenbauer und Zulieferer, die jeden Bearbeitungsvorgang getrennt von anderen ausführen können. Auf Transferstraßen und in der Serienfertigung ist es meist wegen der Vielzahl unterschiedlicher Bearbeitungen schwieriger, auf Trockenbearbeitung umzustellen. Wesentlichen Einfluß haben auch die Forderungen an die Genauigkeiten. Beim Trockenbearbeiten kommt es häufig zu einer starken Erwärmung der Werkstücke. Das führt natürlich zu Werkstückdehnungen, die vom jeweiligen Werkstoff abhängen. Dies muß man im voraus abschätzen und beim Bearbeiten berücksichtigen. Bei komplexen Werkstückgeometrien ist das sehr schwierig und wahrscheinlich nur in Versuchen zu ermitteln. Einfach hat es hier wieder der Anwender in der Einzelfertigung. Er kann z.B. zwischen dem Schruppen und dem Schlichten das Werkstück kühlen und ansonsten trocken bearbeiten. Für die Serienfertigung muß man möglicherweise völlig neuartige Verfahrensabläufe entwickeln. Zunächst wird trocken geschruppt, das Werkstück durchläuft eine Kühlstrecke, um die Werkstücktemperaturen auf Umgebungstemperaturen zu reduzieren. Anschließend wird trocken geschlichtet und wiederholt gekühlt.
Hieraus kann man erkennen, daß das Umstellen auf Trockenbearbeitung eine Vielzahl weiterführender Fragen aufwirft, die nur im gesamten Umfeld der Zerspanung beantwortet werden können. Walter als Systemlieferant für Werkzeuge bietet dem Anwender eine umfassende Analyse seiner jeweiligen Bearbeitungsfälle und daraus resultierend praxisgerechte Bearbeitungskonzepte. Es ist jedem Anwender zu raten, bei der Umstellung auf Trockenbearbeitung die Unterstützung anerkannter Werkzeug- und Zerspanungsspezialisten in Anspruch zu nehmen.
mav: Welche Schneidstoffe eignen sich für die Trockenbearbeitung?
Beuchler: Ideal sind natürlich Schneidstoffe, die sehr hohen Temperaturen widerstehen. Dies sind z.B. CBN und alle keramischen Schneidstoffe. Nachteil ist allerdings, daß sie sehr spröd sind. Kleine Span- und Keilwinkel können wegen der Bruchempfindlichkeit nicht verwirklicht werden. In der Trockenbearbeitung werden deshalb nach unserer Meinung in Zukunft vor allem beschichtete Feinkornhartmetalle dominieren. Sie vereinen in sich gute Zähigkeit, hohe Festigkeit und Warmfestigkeit. Durch kombinierte Beschichtungen erreicht man zudem hohe Verschleißfestigkeiten und die erforderliche Härte der Deckschichten. Im PVD-Verfahren kann man bereits heute bis zu 2000 Schichten in Schichtdicken weniger Nanometer, also im Bereich weniger Atome, aufbringen. Diese Schichten verfügen über hohe Härte, große Zähigkeit und Verschleißfestigkeit. Zudem können wir die Affinität zu dem zu bearbeitenden Werkstückwerkstoff gezielt steuern, um beispielsweise die Klebneigung beim Bearbeiten von Aluminium zu reduzieren.
Wir räumen der Trockenbearbeitung in Zukunft große Chancen ein, wenn auch mit der Einschränkung, daß „trocken“ nicht als Wunder- oder Allheilmittel für die spanende Bearbeitung angesehen werden darf.
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