mav: Aus der letzten Krise 2009 ist Ceratizit sehr gut herausgekommen. Denken Sie, dass das nach der Pandemie auch so sein wird?
Wolter: Die aktuelle Krise ist mit keiner anderen vergleichbar. Wir sind dieses Mal regelrecht überrollt worden und es ging vorrangig um die Gesundheit unsere Mitarbeiter und deren Familien. Neu ist auch die globale Dimension. Durch den Lockdown kam weltweit beinahe alles gleichzeitig zum Erliegen. In Indien, wo der Lockdown ganz hart umgesetzt wurde, schrumpfte unser Auftragseingang zum Beispiel auf einen Schlag auf zeitweise nur noch 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Mexiko war die Situation vergleichbar dramatisch.
Positiv ist allerdings, dass uns heute die gleiche Führungsmannschaft wie 2009 zur Seite steht. So konnten wir, aufgrund der damals gemachten Erfahrungen, dieses Mal viel schneller reagieren.
Neben der Coronakrise macht der Zerspanungsindustrie zusätzlich noch der Rückgang in der Automobilindustrie zu schaffen. Wie hat Ceratizit darauf reagiert?
Wolter: Der Abschwung in der Automobilindustrie wurde bereits im Jahr 2019 immer deutlicher. Wir konnten uns von daher darauf vorbereiten und hatten auch schon Ideen im Kopf. Die Coronakrise hat die Umsetzung dieser Pläne dann nur noch beschleunigt.
Was beinhalten diese Pläne?
Wolter: Ich bin jetzt seit über 25 Jahren im Geschäft und habe in dieser Zeit gelernt, dass man mit einer konsequenten Umorganisation die besten Ergebnisse erzielt. Nach unseren Akquisitionen in den letzten Jahren war unser erstes Ziel keinen Umsatz und keinen Kunden zu verlieren. Im zweiten Schritt haben wir dann das Optimierungspotenzial in der gesamten Gruppe ausgeschöpft. Zum Beispiel haben wir aufgrund des Rückgangs in der Automobilbranche Produktionsteile aus Besigheim auf andere Standorte verlagert und gleichzeitig werden wir den Standort in Besigheim als Kompetenzzentrum für unter anderem alle Automotiveprojekte, ultraharte Schneidstoffe und Stahlträger-Sonderwerkzeuge ausbauen.
Wir haben uns so auf das „new-normal“ eingestellt und nutzen unsere Vorteile in unserem großen europäischen Fertigungsnetzwerk. Wir produzieren jetzt möglichst jedes Werkzeug an nur noch einem Standort und können so Synergieeffekte erschließen, auch hinsichtlich möglicher Lohnkostenvorteile. Das bedeutet manchmal eben auch, dass wir in Kernmärkten Personal abbauen und an anderen Standorten aufbauen. Wenn bei solchen Umorganisationen Arbeitsplätze betroffen sind, machen wir uns die Entscheidung allerdings nie leicht.
Sind alle Standorte der Ceratizit-Gruppe gleichermaßen von der Krise betroffen?
Wolter: Aus unserer Warte heraus haben sich die Märkte in Amerika, Europa und Japan alle sehr ähnlich entwickelt. Dort haben wir mit einem Rückgang von rund 20 Prozent zu kämpfen. Das Geschäft in China hingegen ist in der gesamten Zeit nur leicht zurückgegangen, wenn überhaupt. Die Zahlen für den indischen Markt sind bei uns, durch den harten Lockdown, am stärksten zurückgegangen.
Im letzten Quartal 2020 ging es dann aber in allen Bereichen wieder nach oben. Für die ersten beiden Monate 2021 rechnen wir schon wieder mit den gleichen Ergebnissen wie im Vorjahr.
Sind die einzelnen Branchen ebenfalls gleich von der Krise betroffen?
Wolter: In der Ceratizit-Gruppe bieten wir ja zum einen Produkte für die Zerspanung und zum anderen Verschleißteile aus Hartmetall und Keramik an. Bei den Verschleißteilen ist die Baubranche einer unserer Hauptabnehmer und die hat die Krise sehr gut durchgestanden. Ebenso konstant liefen für uns die Bereiche Medizin- und Lebensmitteltechnik. In der Anfangsphase der Krise haben wir auch vermehrt Projekte unterstützt, die dringend benötige medizinische Geräte produziert haben. So haben wir in England zum Beispiel McLaren bei der Produktion von Beatmungsgeräten unterstützt.
Die Automobilindustrie hat wie erwähnt doppelt gelitten. Nur in China waren auch im Automotivebereich die Umsätze weitestgehend stabil. Besonders hart getroffen hat es die Luftfahrt. Alles was sich rund um diese Branche gruppiert, leidet heute und wahrscheinlich auch in den nächsten Jahren noch stark. Aber die Signale sind auch in der Luftfahrtindustrie positiver geworden. Die Welt nach Corona wird allerdings besonders in der Luftfahrt eine andere sein.
Die E-Mobilität scheint in letzter Zeit weiter an Fahrt gewonnen zu haben. Was hat Ceratizit hierfür im Angebot?
Wolter: Wir haben das letzte Jahr genutzt, unsere Produkte und Lösungen zu verbessern und haben viel Geld und Zeit in unsere Forschung und Entwicklung gesteckt. Herausgekommen sind dabei neue Produkte und Services, die allen Branchen zugutekommen werden. Für die E-Mobilität konkret haben wir zum Beispiel Bearbeitungslösungen für die Kühlrippen der Leistungselektronik, für die Fertigung der Batteriegehäuse und für die Statorgehäuse des dünnwandigen Elektromotorgehäuses entwickelt. Die Werkzeuge für die Statorbearbeitung optimieren wir aktuell noch zusätzlich mit einem Kunden für den Großserieneinsatz.
Wann denken Sie werden die Umsatzzahlen von Ceratizit wieder auf dem Niveau von 2019 sein?
Wolter: 2021 wird sich der Markt schon wieder deutlich erholen und wir werden auch unsere Umsätze wieder signifikant steigern. Insgesamt wird es aber vielleicht noch drei bis vier Jahre dauern, bis wir wieder auf dem Niveau von 2019 sind. Das Gute in der Zerspanungsbranche ist, dass sich immer wieder neue Betätigungsfelder auftun.
Mit dem High Dynamic Turning und den dazugehörigen Freeturn-Werkzeugen hat Ceratizit eine Revolution beim Drehen angestoßen. Welche Neuerungen gibt es hier?
Wolter: Das HDT-Verfahren ist für uns ein ganz wichtiges Thema. Uns war bewusst, dass es für solche Innovationen immer auch den richtigen Zeitpunkt braucht. Viele geniale Ideen sind in der Vergangenheit schon auf der Strecke geblieben, weil sie entweder zu früh oder eben zu spät kamen. Von daher sind wir bereits 2019 mit dem neuen Verfahren an die Öffentlichkeit gegangen, obwohl Ceratizit-untypisch die Werkzeuge dazu noch gar nicht verkauft werden konnten. Ein derart neuer Prozess benötigt ein eigenständiges Ökosystem, das haben wir jetzt gemeinsam mit den Maschinen- und Softwareherstellern aufgebaut. In diesem Ökosystem können unsere Freeturn-Werkzeuge nun ihr volles Potenzial ausspielen.
2020 war für die Entwicklung des HDT-Verfahrens ein gutes Jahr. Hersteller wie Mazak, GibbsCAM oder OpenMind haben massiv daran gearbeitet, die Programmierung für das HDT weiter voranzutreiben. Wie zum Beispiel in der Mazatrol Smooth Artificial Intelligence Steuerung.
Aber auch wir haben massiv an unseren Werkzeugen gearbeitet und haben einige Produkte marktreif gemacht. Am Anfang hatten wir für das HDT nur ein kleines Basisprogramm, dass nun immer mehr mit neuen Wendeschneidplatten, Spanformern und Haltern ausgeweitet wird. In Zukunft könnten die Freeturn-Werkzeuge auch beim Gewinden und anderen Operationen zum Einsatz kommen.
Sind die Werkzeuge beim Kunden schon im Einsatz?
Wolter: Wir haben die Werkzeuge bei einigen Kunden für Pilotanwendungen im Einsatz und sie werden dort Maschine für Maschine ausgerollt. Wir haben es hier mit einem völlig neuen System zu tun. Die Werkzeuge kann man nicht, wie bei einer neuen Wendeschneidplatte, einfach austauschen. Die Werkzeuge sind lieferbar und unsere Kunden können sofort mit dem HDT beginnen.
Das Überwachungs- und Regelungssystem Toolscope bietet für eine digitalisierte Fertigung allerhand nützliche Features. Fragen ihre Kunden aktuell mehr digitalisierte Produkte nach?
Wolter: Toolscope gehört wie das HDT zu den Produkten, bei denen unsere Experten bei der Implementierung beim Kunden live dabei sein sollten. Da aufgrund von Corona das oftmals gar nicht möglich war und ist, haben wir im letzten Jahr weniger neue Kunden für Toolscope gewinnen können. Die Kunden, die das System bereits im Einsatz haben, haben allerdings im letzten Jahr immer mehr Maschinen an das Überwachungs- und Regelungssystem angeschlossen. Dabei hat vor allem die Universalität des Systems überzeugt. Sie können, unabhängig vom Hersteller, alle Maschinen an Toolscope anschließen. Das System sammelt die Fertigungsdaten und der Kunde kann mit unseren Tools auf der Grundlage der Daten seine Produktion optimieren: Zweistellige prozentuale Verbesserungen hinsichtlich Prozesssicherheit, Takt- und Werkzeugstandzeiten sind dabei keine Seltenheit.
In einem neuen Projekt wollen wir aus dem Datenschatz noch mehr rausholen. Gemeinsam mit einem Kunden aus dem Automotivebereich testen wir hierfür den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, um die Daten besser zu verstehen und auswerten zu können. Immer mit dem Ziel einer maximal effizienten Fertigung.
Setzen Sie auch in der eigenen Hartmetallfertigung auf den Einsatz von Künstlicher Intelligenz?
Wolter: Wir haben mittlerweile ein schlagkräftiges Team, das für uns weitere KI-Anwendungsmöglichkeiten erschließt. Die Hartmetallherstellung ist mit ihren vielen Einflussmöglichkeiten und der enormen Komplexität ein tolles Einsatzgebiet. Wir beherrschen den Prozess schon sehr gut, und dennoch entstehen während des Prozesses eine Unmenge an Daten, deren Verständnis es uns ermöglichen würde, eine noch höhere Qualität mit einer höheren Prozesssicherheit herstellen zu können. Das Gleiche gilt aus unserer Sicht für den Beschichtungsprozess.
Kunden, die bei Ceratizit bis 19:00 Uhr bestellt haben, können bereits am nächsten Tag um 12:00 Uhr ihre Bestellung in Empfang nehmen. Wie funktioniert das bei 65 000 Katalogprodukten?
Wolter: Zunächst haben wir ein sehr effizientes Lieferkettenmanagement mit dem wir gewährleisten, dass die richtigen Produkte im Katalog sind und auch in der richtigen Menge auf Lager liegen. Des Weiteren verfügen wir in Kempten über ein sehr modernes Logistikzentrum, das wir nun sogar durch einen noch leistungsstärkeren Logistikkomplex ersetzen werden. Wir können so eine 99-prozentige Verfügbarkeit aller 65 000 Katalogprodukte sicherstellen. In Zusammenarbeit mit den Lieferdiensten können wir den Service jedem Kunden in Deutschland ab Losgröße 1 anbieten. Unsere Kunden können damit ihre Produktion sehr flexibel organisieren.
Wie lange müssen die Kunden auf Sonderwerkzeuge warten?
Wolter: Wir haben das Jahr 2020 auch dafür genutzt den Bestellprozess für unsere Sonderwerkzeuge effizienter zu gestalten. Wir sind hier mittlerweile sehr schnell. Bohr- und Fräswerkzeuge aus Hartmetall bekommt man bei Ceratizit als Sonderanfertigung jetzt innerhalb von zwei bis drei Wochen. Für die Semi-Standardprodukte entwickeln wir gerade einen Online-Konfigurator. Damit kann der Kunde dann sein Werkzeug selbst gestalten und den Produktionsprozess auch direkt anstoßen. Den Konfigurator wollen wir noch dieses Jahr vorstellen.
Im Bereich der additiven Fertigung hat Ceratizit einen Prozess entwickelt, der es erstmal ermöglicht, Hartmetall auch zu drucken. Was ist damit möglich?
Wolter: Hartmetall ist gerade aufgrund seiner schwierig beherrschbaren Kohlenstoffbilanz ein tückisches Material. Darum ist es auch so kompliziert, Hartmetall zu drucken. Dass wir es dennoch hinbekommen haben, ist für uns ein großer Erfolg. Damit haben wir jetzt die Möglichkeit, vorher völlig undenkbare Geometrien, gepaart mit neuen Funktionen, zu drucken. Zum Beispiel bieten wir nun Hartmetallprodukte mit zuvor nicht möglichen Hinterschneidungen, Kühlkanalformen und Hohlräumen an. Das ist momentan besonders im Bereich der Verschleißprodukte von großem Vorteil. Bei Gasventilen können zum Beispiel dank des 3D-Drucks nun extreme Anforderungen an den Gasfluss realisiert werden. Wir stehen hier noch am Anfang und werden in Zukunft noch viele weitere Anwendungsfälle präsentieren. Dass wir aber irgendwann μm-genau Werkzeuge drucken können, das sehe ich noch nicht.
Welche Highlights wird Ceratizit 2021 präsentieren?
Wolter: Wir haben im letzten Jahr eine ganze Reihe an Innovationen entwickelt. Jetzt brennen wir richtig darauf, diese den Kunden näherzubringen. Da wäre zum einen als sichtbares Zeichen dafür, dass wir jetzt alle Firmenzukäufe vollständig in unser System integriert haben, unser neuer Katalog.
Zum anderen haben wir auch eine ganze Reihe an neuen Services und Produkten entwickelt. Eines meiner persönlichen Highlights ist unsere App LiveTechPro. Im Support-Fall können darüber unser Servicecenter und die Anwendungstechniker direkt kontaktiert werden, und der liefert Hilfe, als wäre er beim Kunden vor Ort: Über Videoaufnahmen von Smartphone oder Tablet lassen sich Details markieren, besprechen und Probleme lösen. Sogar eine Anbindung an Virtual-Reality-(VR)-Systeme ist möglich. Mit der App wollen wir zu einem späteren Zeitpunkt einen echten 24/7-Service anbieten. Ich erwarte von der App sehr viel, gerade in den Ländern und zu den Zeiten, in denen wir bislang nicht uneingeschränkt erreichbar waren.
Ebenfalls sehr spannend ist das intelligente Feinspindelsystem Komflex. In Kombination mit einem BLUM-Messtaster ermöglicht das eine vollautomatische Durchmesserkorrektur bei Präzisionsbohrungen. Damit ist eine μm-genaue mannlose Bearbeitung möglich. Wir haben im letzten Jahr zudem eine neue Linie an VHM-Fräsern und -Bohrern herausgebracht. Wir sind für das Jahr 2021 sehr gut gerüstet und wollen dieses Feuerwerk an Innovationen für unsere Kunden auch erlebbar machen.
Ceratizit Deutschland GmbH
www.cuttingtools.ceratizit.com