Bereits im Frühjahr 2020 sorgte eine Studie der TU München für Aufmerksamkeit, die zu dem Ergebnis kam, dass sich die Strukturen weltweiter Lieferketten in Zukunft „dramatisch verändern werden“. Es sei wichtig, hieß es, in künftigen Krisensituationen in der Lage zu sein, alternative Lieferanten in einer wenig beeinträchtigten Region zu haben und auszuweichen. Doch anders als etwa die chemische oder pharmazeutische Industrie sieht der VDW (Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken) die eigene Branche weit weniger unter Handlungsdruck.
Robust durch hohe Wertschöpfungstiefe
Als Grund nennt Dr. Wilfried Schäfer, Geschäftsführer des VDW, die hohen Qualitätsstandards der Branche: „Die Unternehmen besitzen entweder eine sehr hohe Wertschöpfungstiefe, oder sie kaufen bereits überwiegend in Deutschland ein.“ Bei Komponenten und Rohmaterial aus China oder dem südlichen Europa habe es zwar Ausfälle, aber auch Kompensationsmöglichkeiten über andere Lieferanten gegeben.
Das sieht auch Benjamin Eichinger vom Würzburger Unternehmen Scoutbee so: „Es gibt Schocks, die Unternehmen treffen, aber auch Tools, die helfen.“ Scoutbee ist auf digitale Lieferantensuche spezialisiert. Das Unternehmen bedient sich künstlicher Intelligenz (KI) und Big Data, damit Kunden mittels einer SaaS (Software as a Service) in Milliarden von Datensätzen nach Produkten und geeigneten Lieferanten fahnden können.
Mit Software schneller zum passenden Lieferanten
Durchforstet werden tiefgreifende Marktinformationen, darunter Finanzzahlen, Expertisen zur Nachhaltigkeit oder aktive Zertifizierungen, sprachübergreifend und in Echtzeit, um sämtliche aktuellen und potenziellen Lieferanten weltweit zu identifizieren. Dauert eine manuelle Suche üblicherweise Wochen oder Monate, so Eichinger, sind es digital allenfalls Tage. Durchschnittliche Zeitersparnis nach Kundenerfahrungen: 85 %.
Scoutbee verzeichnete 2020 einen sprunghaften Zuwachs an Aufträgen und Kunden, darunter auch Werkzeugmaschinenhersteller. 2015 gegründet und erst seit zwei Jahren auf dem Markt, beschäftigt das Unternehmen inzwischen über 130 Mitarbeiter. Ein virtueller Stand auf der Fachmesse Metav digital 2021, die vom 23. bis 26. März 2021 stattfindet, ist bereits gebucht.
Eichinger bestätigt, dass es in letzter Zeit eine Bevorzugung von Lieferanten „in der Nähe“ durchaus gegeben habe. Auch seien globale Strategien zurückgefahren worden. Doch ausgelöst hat die Suche nach neuen Lieferanten nicht unbedingt Corona. Auch Qualitätsmängel oder die Reduzierung von Lieferkosten spielen bei gewünschten Veränderungen eine Rolle.
Lieferanten in die Planung einbeziehen
Sich gegen Überraschungen und mögliche Ausfälle zu wappnen, gehört für Werkzeugmaschinenhersteller zum Geschäft. „Grundsätzlich hat sich an unserer Einkaufsstrategie nichts geändert“, sagt Manfred Maier, Chief Operating Officer (COO) der Heller-Gruppe, auf Nachfrage zu möglichen Konsequenzen aus der Corona-Pandemie. Heller entwickelt und produziert CNC-Werkzeugmaschinen und Fertigungssysteme für die spanende Bearbeitung. „Wir setzen nach wie vor auf die hohe Qualität und Zuverlässigkeit unserer vornehmlich europäischen Lieferanten“, betont der COO.
Dass diese zunehmend Wertschöpfungsanteile in Niedriglohnländer verlagern, um Kostenvorteile zu erzielen, räumt Maier durchaus ein. Aus demselben Grund wird bei Heller Eisenguss aus Asien bezogen. Ein Problem sieht er darin nicht: „Generell gilt das Ziel einer Dual-Sourcing-Strategie, in einigen Warengruppen auch Multiple-Sourcing-Strategie – etwa wegen der Komplexität von Baugruppen, die es abzusichern gilt.“
Materialversorgung weiter auf hohem Niveau
Laut Maier ist die Materialversorgung 2020 insgesamt auf einem sehr hohen Niveau geblieben, trotz Kurzarbeit bei einer überwiegenden Anzahl der Zulieferer. „Wir haben rechtzeitig kritische Lieferanten in die Forecast-Planung unserer Bedarfe mit aufgenommen, die jeweils monatlich aktualisiert verschickt werden.“ So könnten sich Lieferanten frühzeitig auf Bedarfsschwankungen einstellen und die Materialversorgung gewährleisten.
Um kritischen Entwicklungen vorzubeugen, seien zudem alle strategischen und operativen Einkäufer angehalten, ihr „Ohr am Lieferanten“ zu haben. Da werde in täglich stattfindenden Gesprächen durchaus nachgefragt, „mit Fingerspitzengefühl“, wie Maier betont. Über die Qualität von Zulieferern gebe die QKZ (Qualitätskennziffer)-Quote Auskunft, die die Lieferantenzuverlässigkeit sowie auftretende Reklamationen in einer Quote vereint. Die Daten werden aus dem SAP-System ermittelt.
KMU sourcen eher regional, Großnternehmen global
Dass für die bevorzugte Art von Lieferantenbeziehungen die Struktur einer Branche eine Rolle spielt, geht aus einer Studie der Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services, Nürnberg, über Wertschöpfungsketten in der Automations-Branche hervor. Demnach sind kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) bei benötigten Produkten und Dienstleistungen eher regional aufgestellt. Sie setzen bevorzugt auf langjährige und vertrauensbasierte Kooperationen. Großunternehmen beschaffen die benötigten Waren tendenziell auf einer globalen Basis, suchen Wege durch komplexe Strukturen, erheben validierbare Kennziffern und planen vorausschauende Steuerungsmechanismen.
Die Studie belegt zudem, dass sich mit zunehmender Automatisierung auch KMU einer wachsenden Komplexität der Lieferbeziehungen kaum entziehen können. Aus dem einfachen „Order-to-Payment-Prozess“ früherer Zeiten, der nur innerhalb eines einzelnen Unternehmens abläuft und sich von Unternehmen zu Unternehmen in einer Kette zusammenfügt, wird ein komplexes Netz. Maschinen, Förderanlagen, Roboter, Steuerungen und Softwarekomponenten werden verknüpft und mit Marketing, Vertrieb und Distribution verbunden.
Der Unternehmenserfolg ist zudem immer stärker abhängig von begleitenden Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus einer Lösung, einschließlich (Fern-)Wartung, Reparatur und Entsorgung. Dafür müssen oft externe Experten und Spezialisten hinzugezogen werden. Das Ganze potenziert sich dann in der digitalen Welt über Cyber-physische Systeme (CPS), also Systeme, bei denen informations- und softwaretechnische mit mechanischen Komponenten verbunden werden.
Komplexitätstreiber Kunde
Der größte Komplexitätstreiber seien jedoch oft die Kunden, so Andreas Gützlaff, Leiter der Abteilung Produktionsmanagement im Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen. Individuelle Kundenwünsche erfordern mehr Produktvarianten, die zu komplexeren Produktportfolios führen und sich unmittelbar auf Konstruktion, Planung, Lieferkette, Produktion und Vertrieb auswirken. Die Komplexität dieser Entwicklung verlange nach Transparenz und einem neuartigen Datenmanagement, sagt Gützlaff. Am Ende gehe es um die einfache, aber existenziell wichtige Frage: „Wo verdiene ich Geld und wo verliere ich welches?“
Komplexitätssteuerung zahlt sich aus
In den komplexen Wertschöpfungsnetzen schlummern nach Erkenntnissen des WZL nicht nur (Kosten-)Risiken, sondern auch erzielbare Effizienzgewinne. „Durch eine gesteuerte Komplexität lassen sich Einsparungen von bis zu 15 % im Betriebsergebnis realisieren“, betont Gützlaff. Das belegen Erfahrungen aus den Unternehmen, mit denen das WGP-Institut WZL zusammenarbeitet.
Um der Nachfrage nach geeigneten Lösungen nachzukommen, bietet das WZL in Zusammenarbeit mit der Complexity Management Academy und der Universität St. Gallen ab dem kommenden Jahr die Fokusgruppe „Plant Complexity“ an, in der sich Unternehmen mit Experten und anderen Unternehmen austauschen und Lösungsansätze finden können. Das Angebot gilt branchenübergreifend und richtet sich an Führungskräfte aus Produktion und Supply Chain.
Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken e.V. (VDW)
Lyoner Straße 14
D-60528 Frankfurt am Main
Telefon: +49 69 756081–0
E-Mail: vdw@vdw.de
Internet: www.vdw.de
Gebr. Heller Maschinenfabrik GmbH
Gebrüder-Heller-Straße 15
D-72622 Nürtingen
Telefon: +49 7022 77–0
E-Mail: info@heller.biz
Internet: www.heller.biz
Werkzeugmaschinenlabor WZL der RWTH Aachen University
Cluster Produktionstechnik
Campus-Boulevard 30
D-52074 Aachen
Tel: +49 241 80 27554
E-Mail: info@wzl.rwth-aachen.de
Internet: www.wzl.rwth-aachen.de
Scoutbee GmbH
Holundergasse 10
D-97262 Hausen bei Würzburg
Telefon: +49 (0)931 466219 60
E-Mail: connect@scoutbee.com
Internet: https://scoutbee.com/de/
Metav digital 2021: Prozesskette im Fokus
Die gesamte Prozesskette in der Metallbearbeitung abzubilden, ist traditionell ein zentrales Anliegen der Metav. Wachsende Bedeutung erlangte dabei schon auf den vergangenen Präsenzmessen der Themenkomplex Industrie 4.0 mit Aspekten wie vernetzte Fertigung, Cloud-Anwendungen, Datenmanagement, Cybersecurity oder Plattformökonomie. Die Metav digital könnte für diesen Bereich ebenfalls für Schub sorgen, weil sich die Teilnehmer auch untereinander sehr gut vernetzen können. Der VDW als Veranstalter erwartet daher, dass auch die Metav digital von Unternehmen verstärkt genutzt wird, um am virtuellen Messestand neue Geschäftsverbindungen aufzubauen und belastbare neue Allianzen zu schmieden.
Die METAV digital 2021 findet vom 23. bis 26. März unter dem Motto Netzwerken einfach dreifach statt. Sie ersetzt die Metav reloaded 2020, die im Dezember vergangenen Jahres als Präsenzveranstaltung abgesagt werden musste. Die Metav digital ist die erste Messe für die Metallbearbeitung in Deutschland seit Herbst 2019. Sie steht ab sofort allen Ausstellern offen, auch wenn sie bisher nicht zur Metav angemeldet waren. Die Digitalausgabe besteht aus drei Teilen, der Virtual Exhibition, einem intelligenten Matchmaking und den Web-Sessions. Sie zeigt das komplette Spektrum der Fertigungstechnik. Schwerpunkte sind Werkzeugmaschinen, Werkzeuge, Zubehör, Messtechnik, Oberflächen- und Computertechnik für die Metallbearbeitung, Software, Maschinen und Systeme für die additive Fertigung, Produktionssysteme und Komponenten für die Medizintechnik. Detaillierte Informationen, Angebote und Anmeldeunterlagen finden Interessenten im Internet unter https://www.metav-digital.de, (englische Version https://www.metav-digital.com).