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„Die Empfindlichkeit gegenüber Partikeln steigt“

Dr. Markus Rochowicz, Gruppenleiter Reinheitstechnik, Fraunhofer IPA
„Die Empfindlichkeit gegenüber Partikeln steigt“

Autor: Das Interview führte:

mav: Wie ist der Begriff Technische Sauberkeit entstanden?

Rochowicz: Im Jahr 2001 haben wir begonnen, im Industrieverbund mit 25 Firmen aus der Automobil- und Zulieferindustrie die Ursprünge der heutigen Richtlinie VDA Band 19 zu erarbeiten. Das Thema hieß zunächst Restschmutz, aber das war den Automobilherstellern zu negativ besetzt. Dann haben wir beschlossen, das Thema positiv zu benennen. So ist der Begriff Technische Sauberkeit geboren worden.
mav: Es ging dabei vor allem um Partikel-Verunreinigungen?
Rochowicz: Ja, ausschließlich. In jedem System, in dem Sie ein Fluid haben, ob im Ölkreislauf, im Bremssystem, im Kraftstoffsystem, im Getriebe, im Klimagerät, im Ansaug- oder Abgastrakt – überall, wo sich Partikel bewegen und etwas verklemmen, blockieren oder verstopfen können, stellt sich heute die Frage der Technischen Sauberkeit. Die Ersten, die sich damit beschäftigt haben, waren die Entwickler der Antiblockiersysteme Anfang der 90er Jahre. Der große Boom kam dann in der zweiten Hälfte der 90er Jahre durch die Dieseleinspritztechnik.
mav: Waren die Aggregate früher toleranter gegenüber Verunreinigungen als heute?
Rochowicz: Ja, und das betrifft alle Systeme. Es werden immer mehr Aggregate im Auto verbaut, und das Ganze wird immer enger toleriert und höher belastet. Es gibt immer mehr Systeme, die regeln und kontrollierend eingreifen. Dort haben Sie immer auch Ventile, Pumpen, enge Querschnitte, und die Empfindlichkeit gegenüber Partikeln steigt entsprechend.
mav: Wie ging es weiter mit der VDA 19?
Rochowicz: Der Industrieverbund hat sich zusammengesetzt, um ein Regelwerk oder einen Leitfaden zu erarbeiten. Dann schritt aber rasch der VDA-QMC ein, das höchste Gremium für automobile Qualitätssicherung in Deutschland, und reklamierte das Thema für sich. Wir konnten die Verantwortlichen schließlich überzeugen, und sie ließen uns weiterarbeiten, unter der Bedingung, dass die Vertriebsrechte beim VDA-QMC liegen würden, falls etwas Vernünftiges dabei herauskommen würde.
mav: War das nicht ernüchternd für Sie?
Rochowicz: Die Vorstellung hat uns anfangs schon etwas geschreckt. Aber im Nachhinein war es eine glückliche Fügung, weil unsere Richtlinie durch die offizielle Trägerschaft eine viel größere Wirkung entfaltet hat und global angewendet wurde an allen Fertigungsstätten der Automobiler.
mav: Ist das Thema Technische Sauberkeit inzwischen in der Fertigung angekommen?
Rochowicz: Einerseits ja, wenn Sie bedenken, dass wir mittlerweile weit über 1000 Labore haben, in denen Technische Sauberkeit in der Automobil- und Zulieferindustrie geprüft wird. Es gibt zudem über 40 Dienstleistungslabore, die solche Prüfungen im Auftrag machen. Rund 4000 Personen dürften sich hauptberuflich mit Technischer Sauberkeit beschäftigen, es sind also schon neue Berufsbilder entstanden. Andererseits: Wenn Sie die breite Masse von Entwicklern und Qualitätsbeauftragten betrachten, dann ist es immer noch für viele ein Nischenthema.
mav: Woran liegt das?
Rochowicz: Zum einen ist das Thema in der Ausbildung noch nicht so präsent. Zum anderen wird es auch nicht offensiv kommuniziert. Es ist eben immer noch ein Qualitätsthema, und Sie werden nichts dazu aus dem Munde irgendeines Firmenvorstands hören. Es ist eben kein Hype-Thema wie Krebsforschung oder Nanotechnologie – nichts, womit man sich schmücken kann, weder für die Hersteller, noch für Fraunhofer oder für die Förderträger. Das macht es uns als Forschungsinstitut auch immer etwas schwerer, Fördergelder für diese Themen zu bekommen.
mav: Warum ist gerade Süddeutschland in diesem Bereich so stark?
Rochowicz: Gerade rund um Stuttgart sind sehr viele Firmen der Reinigungstechnik angesiedelt, das ist schon ein kleines Clean Valley. Ein Hauptgrund liegt sicher darin, dass hier einfach die Kunden sitzen – sowohl die Automobilhersteller als auch die Zulieferbetriebe.
mav: Die Automobilindustrie ist also der große Fokuspunkt. Wie sieht es mit anderen Branchen aus?
Rochowicz: Die VDA 19 wird mittlerweile auch schon in vielen anderen Branchen angewandt, namentlich in der Hydraulikindustrie, im Maschinenbau – und interessanterweise auch in der Medizintechnik. Traditionell bedeutet dort steril gleich sauber. Erst allmählich findet ein Umdenken dahingehend statt, dass Sauberkeit auch andere Rückstände umfasst – seien es tote Keime oder Bruchstücke davon, aber auch Fertigungshilfsstoffe, Kühlschmiermittel, Partikel und so weiter.
mav: Gerade in der Implantatemedizin ist das aber ein ganz wichtiges Thema. Decken das die bisherigen Regularien nicht ab?
Rochowicz: Die Automobilzulieferer stöhnen teilweise wegen der Grenzwerte – die Medizintechniker wären froh, sie hätten welche. Es gibt zwar Richtlinien, die fordern, dass von einem Medizinprodukt kein Schaden für den Patienten ausgehen darf. Aber was das konkret bedeutet, weiß niemand. Und nicht nur die Medizintechniker wissen nicht, wie sauber sie sein müssen, sondern auch die benannten Prüfstellen. Da kann ich dann als Hersteller nur plausibel machen, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen und dem Stand der Technik arbeite. Aber je weiter sich die Analytik entwickelt, desto geringere Spuren können sie nachweisen. Es fehlt einfach die Basislinie, an der sich die Hersteller orientieren können. Deshalb sind wir dabei, einen Industrieverbund zu starten, der genau dieses Thema für die Medizintechnik aufbereitet.
mav: Es gibt inzwischen eine Neufassung der VDA 19. Was hat sich geändert?
Rochowicz: Ein Hauptverbesserungspunkt war die Vergleichbarkeit der Analyseergebnisse. Dort gab es große Unterschiede. Die Prüfung der Partikelsauberkeit ist ja ein dreistufiger Prozess: Ich extrahiere den Schmutz vom Bauteil über eine Reinigung im Labor, filtriere ihn dann auf eine Membran und werte diese anschließend aus. Sowohl bei der Extraktion als auch bei der Auswertung gibt es sehr viele Freiheitsgrade.
mav: Etwa bei der Zählung der Partikel unter dem Mikroskop?
Rochowicz: Ja. Man denkt immer, die Zählung der Partikel unter dem Mikroskop ist eine objektive Methode. Aber wenn ich Bildverarbeitung nutze, muss ich dem Mikros- kop erst beibringen, was ein Partikel ist und was nicht. Da spielen die Helligkeit, die Beleuchtung, das Setzen von Schwellenwerten eine Rolle. Als Folge davon lagen die Ergebnisse teilweise um den Faktor 2 oder 3 auseinander – nur weil unterschiedlich gearbeitet wurde. Deshalb hat man jetzt wesentlich engere Parameter definiert, um vergleichbare Methoden zu bekommen.
mav: Was hat sich noch geändert?
Rochowicz: Ein zweiter Punkt war die Erweiterung der Prüfmethoden. Zum Beispiel wurde die Extraktion mit Luft mit hinzugenommen, für luftführende Systeme.
mav: Neu hinzugekommen ist seit 2010 auch ein Teil 2. Was verbirgt sich dahinter?
Rochowicz: Der Teil 2 hat nichts mit der Prüfung der Sauberkeit zu tun, sondern mit der Beherrschung der Sauberkeit in der Produktion. Er nennt sich denn auch „Technische Sauberkeit in der Montage“. Dort werden Punkte wie Umwelt, Logistik, Personal und Montageeinrichtungen beleuchtet.
mav: Inwieweit wird das Thema Reinigung auch in der Fertigung schon mit betrachtet?
Rochowicz: Genau dieser Punkt fehlt aktuell noch. Die VDA 19, Teil 2, setzt eigentlich mit dem sauberen Bauteil ein. Aber die sauberkeitsgerechte Herstellung des Bauteils – von der Konstruktion übers Urformen, Umformen, Zerspanen bis zur Reinigung –, die ist momentan noch nirgends niedergeschrieben.
mav: Wird das kommen?
Rochowicz: Ein großer Bedarf ist auf jeden Fall da. Es gibt auch durchaus Ansätze für reinigungsgerechtes Design, aber die sind schwer umzusetzen, weil ein Konstrukteur heute sehr enge Vorgaben hat, was er an Platz und Materialien zur Verfügung hat. Man könnte sicher einiges erreichen im Bereich der Werkstoffe oder Werkzeuge, aber der Kostendruck in der Automobilindustrie ist einfach enorm. Man versucht, mit einfacheren Werkstoffen und sehr kurzen Taktzeiten hinzukommen, und das widerspricht alles eher dem Sauberkeitsgedanken.
mav: Welche klassischen Reinigungsverfahren spielen heute eine Rolle, und welche sind neu dazu gekommen?
Rochowicz: Die Reinigungstechnik hat sich eigentlich ganz interessant entwickelt. Vor 25 Jahren bedeutete Reinigung in der Metallverarbeitung oder im Automobilbau schlichtweg Entfetten. In den 90er Jahren wurden die bewährten Reinigungsmittel, hauptsächlich halogenierte Kohlenwasserstoffe, in Deutschland geächtet. Die Branche hat dann versucht, die gleiche Entfettungsleistung mit wässrigen Systemen zu erreichen. Als das funktionierte, kam die Vorgabe, auch Partikel gezielt aus Bauteilinnenbereichen abzuführen. Damit ist die ganze Reinigungstechnik wesentlich komplexer geworden. Es reichte nicht mehr, die Bauteile zu tauchen. Man musste mechanische Einwirkung an die Innenbereiche bringen – zum Beispiel durch Spritzen, Hochdruck, Ultraschall oder Druckumfluten.
mav: Wie sieht es mit dem CO2-Schneestrahlen aus?
Rochowicz: Das CO2-Schneestrahlen ist eines der wenigen neuen Verfahren, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Es wird nie die Reinigung mit Flüssigkeit ablösen, sondern es ist eine sinnvolle Ergänzung für Probleme, die bisher gar nicht zu lösen waren – etwa montageintegriert zu reinigen.
mav: Nicht nur die halogenierten Kohlenwasserstoffe, sondern überhaupt immer mehr Stoffe werden reglementiert – etwa durch die REACH-Verordnung. Wirkt sich das im Reinigungsbereich stark aus, oder wird im Automobilbereich ohnehin nur noch wässrig gereinigt, und das Thema Problemstoffe stellt sich gar nicht mehr?
Rochowicz: Das würde ich so nicht sagen. Es gibt tatsächlich viele Bauteile, bei denen man hohe Spritzdrücke braucht – das geht nur wässrig. Es gibt aber durchaus Anwendungen, bei denen Lösemittel absolut ihre Berechtigung haben. Ich denke sie erholen sich im Moment ein bisschen, was ihr Image angeht. Man arbeitet heutzutage im Lösemittelbereich in geschlossenen Anlagen, im Vakuum, sicher in punkto Explosionsschutz, aber auch in punkto Emissionen. Und die Anlagen haben, gerade wenn es um das Entfetten geht, große Vorteile gegenüber wässrigen Systemen. Beide Technologien haben also ihre Berechtigung.
mav: Sind Reinigungsanlagen heute typischerweise Teil eines Projektgeschäfts?
Rochowicz: Wenn wir in die Vergangenheit blicken, dann war das schon einmal normaler. In den 90er Jahren kam die Zeit des Lean-Gedankens, und viele Reinigungsanlagen sind eingespart worden, weil Reinigen per definitionem nicht wertschöpfend ist. Mit dem Aufkommen der Thematik Technische Sauberkeit hat man aber gesehen, dass man die Reinigungstechnik dringend braucht. Ich würde es so formulieren: Ohne abschließende Reinigung ist jeder andere Prozess nicht wertschöpfend.
mav: Im Herbst 2013 haben Sie am Fraunhofer IPA den neu gestalteten Labortrakt Clean Lab 2020 eingerichtet. Was war die Motivation?
Rochowicz: Das Clean Lab mit den beiden betroffenen Laboren war ursprünglich ein normales Restschmutzlabor für die Automobilindustrie. Aber wie bereits erwähnt, wird die VDA 19 zunehmend in der Medizintechnik angewendet. Deshalb wollten wir das Labor auf Medizintechnik-Niveau heben. Wir haben das Ganze in den Reinraum gepackt, mit aktueller Analysetechnik nachgerüstet und können es jetzt für ein sehr großes Branchenspektrum einsetzen.
mav: Sie machen dort sowohl Forschung als auch Dienstleistung?
Rochowicz: Forschung, Dienstleistung und Ausbildung. Automobilhersteller können das Clean Lab nutzen, auch von Medizintechnik-Herstellern wird es sehr stark nachgefragt – vor allem aus dem Bereich chirurgische Instrumente und Implantate. Ein weiteres großes Thema ist die Raumfahrt, die Reinheit von Satelliten-Komponenten oder Geräten wie dem Mars-Rover. Wenn man Spuren von Leben auf dem Mars finden möchte, ist es wichtig, dass man keine Verunreinigungen mitbringt. Und bei Satelliten müssen die Komponenten über lange Jahre funktionieren, weil es keine Wartungsmöglichkeit gibt.
Fraunhofer IPA www.ipa.fraunhofer.de

Reinheitskonzept nach Maß
Seit Mitte September 2013 erweitert der neu gestaltete Labortrakt Clean Lab 2020 das Leistungsspektrum am Fraunhofer IPA im Bereich der Bewertung der Reinheit und Sauberkeit von Bauteilen, Oberflächen und Flüssigkeiten durch ein weltweit einzigartiges Reinheitskonzept: Der bestehende, 200 m2 große Reinraum der besten Luftreinheitsklasse 1 (nach ISO 14644-1) wird dabei durch ein reinheitstechnisch optimiertes, gestaffeltes Reinraumkonzept mit den Clean Lab-Laboren der ISO-Klasse 3, 6 und 8 verbunden.
Mit den neuen Laboren können die Anforderungen der Automobiltechnik über die Medizin- und Pharmaindustrie bis hin zur Mikro- und Nanotechnologie mit einer durchgängigen Vernetzung von Reinigungs- und Reinheitsvalidierung bearbeitet werden. Neueste automatisierte lichtoptische Fluoreszenz- und Rasterelektronenmikroskope, Raman-Spektrometer und 3D-Computertomographen bieten die bestmögliche Antwort auf aktuelle und zukünftige Reinheitsfragen der Industrie – von der Detektion bis hin zur Analyse von Partikeln. Zusätzlich wird der neue Laborbereich auch bei Schulungen direkt für Kunden aus der Industrie erlebbar. Diese Infrastruktur in Kombination mit der langjährigen Kompetenz auf dem Gebiet der Reinheitstechnik stellt die Basis für die unterschiedlichsten Forschungsschwerpunkte bis hin zu deren Anwendung im Routinebetrieb zur Serienüberwachung dar.
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