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Sustainability – der neue Gradmesser für die Fertigung

Nachhaltigkeit wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor in der Produktionstechnik
Sustainability – der neue Gradmesser für die Fertigung

Waren bisher Produktivität, Qualität und Liefertreue die Messgrößen, auf die sich die Innovation in der spanenden Fertigung fokussierte, so steigt nun auch der Einfluss gesamtgesellschaftlicher Themen auf das produzierende Gewerbe. Hersteller wie Fertiger erkennen, dass Faktoren wie Nachhaltigkeit mitentscheidend sein werden für ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit – und das nicht nur aus ökonomischer Sicht.

Autor: Dr. Frank-Michael Kieß

Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und man muss konstatieren: Die Coronakrise ist längst nicht überwunden. Neben Lieferengpässen sind es vor allem steigende Preise für Energie und Rohstoffe, die der Produktionswirtschaft zu schaffen machen. Und Klimaneutralität steht weit oben auf der politischen Agenda. Laut Studie des Beratungshauses PAC vom September 2021, bei der 200 große und mittlere Unternehmen in Europa befragt wurden, planen 50 % der deutschen Vertreter, noch vor 2030 Klimaneutralität zu erreichen. Bemerkenswert dabei: In der Fertigungsindustrie sind es sogar 57 %. Der größte Treiber für die Dekarbonisierungsstrategie sind laut PAC die Kunden: 84 % der befragten Unternehmen nannten sie an erster Stelle. Vorgaben von Regierungsbehörden und Investmentfirmen spielten ebenfalls eine wichtige Rolle.

Auch kleine und mittelständische Unternehmen in Deutschland haben die Bedeutung des Themas für sich erkannt: Zwei Drittel der Firmen messen dem Erreichen der CO2-Neutralität eine hohe Priorität bei und 63 % betrachten dieses Ziel sogar als Chance. Entsprechend möchten sie die energetische Modernisierung der Produktionsprozesse und Gebäude aktiv angehen: Fast drei Viertel (72 %) wollen bereits bis 2030 klimaneutral werden. Das ist das Ergebnis eine Studie, die vom Contracting-Dienstleister Engie Deutschland in Auftrag gegeben und Mitte 2021 vom Handelsblatt Research Institute (HRI) in Kooperation mit dem Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) durchgeführt wurde. Befragt wurden 289 Mittelständler, davon 51 im produzierenden Gewerbe, die im Regelfall einen überdurchschnittlich hohen Energiebedarf aufweisen.

Nachhaltigkeit ist große Herausforderung

Klimaschutz und Nachhaltigkeit seien längst Teil der politischen Agenda, meint Manfred Schmitz, CEO von Engie Deutschland. „Aber die Vehemenz und Schnelligkeit, mit der die Umsetzung jetzt gefordert wird, stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen.“

Große Player wie Bosch haben sie bereits angenommen. Das Unternehmen arbeitet mittlerweile an allen rund 400 Standorten weltweit klimaneutral. Die Zerspanungsbranche hat das Thema aufgenommen: Nachhaltigkeit mit einem ganzheitlichen Ansatz gehöre zur DNA von DMG Mori, heißt es vom deutsch-japanischen Werkzeugmaschinen-Riesen. Vom Rohstoff bis zur Auslieferung seien alle weltweit verkauften Maschinen klimaneutral.

Auch der Werkzeugmaschinenhersteller Grob hat die nachhaltige Produktion längst als einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor erkannt. „Aus Sicht der Maschinenbauindustrie sind Nachhaltigkeit und CO2-Reduktion in Zukunft extrem wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit“, sagte German Wankmiller, Vorsitzender der Geschäftsführung, auf einer Podiumsdiskussion anlässlich der EMO Hannover Relaunch Conference im September (s. u.). Auf die damit zusammenhängenden technologischen Umbrüche im Kernsegment Automotive haben sich die Mindelheimer früh eingestellt. E-Antriebe und Batteriespeichersysteme sind für die Gesamtstrategie des Unternehmens mittlerweile von entscheidender Bedeutung – und man baut die Kompetenz in diesen Bereichen konsequent aus.

Ob sie will oder nicht – der Werkzeugmaschinenindustrie kommt hier eine zentrale Bedeutung zu. Sie stellt die „Muttermaschinen“ für alle weiterführenden Produktionsprozesse her, und die darauf bearbeiteten Werkstoffe wie Stahl oder Aluminium sind energieintensiv. Andererseits: Ohne Werkzeugmaschinen wird es keine Elektroautos, keine Windräder geben. Die Gretchenfrage lautet: Wie bringt man das mit Sustainability und Klimaneutralität unter einen Hut?

Es ist bezeichnend, dass das traditionsreiche Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium – wegen Corona mehrmals verschoben – zu einem Diskussionsforum für nachhaltige Wertschöpfung mutierte. Anfangs noch unter dem Motto „Turning Data into Value“ geplant, stand nun die Frage im Mittelpunkt, wie Unternehmen ihre zukünftige Wettbewerbsfähigkeit durch nachhaltige und resiliente Produktion sichern können.

Werte statt Wachstum

„Statt auf Wachstum müssen wir auf Werte setzen“ – dieser Merksatz von BASF-Vorständin Saori Dubourg bleibt in Erinnerung. Nicht zuletzt aufgrund gestiegener Kundenanfragen müsse Nachhaltigkeit „das neue Normal“ werden. Die Nachfrage der Märkte, aber auch politische Randbedingungen wie der European Green Deal würden den Trend beschleunigen und die Unternehmen über kurz oder lang zur Transformation bewegen. Nachdrücklich warb Dubourg dafür, die Wirtschaftsrisiken durch den Klimawandel und ihre Bedeutung für die Industrie nicht länger zu unterschätzen: Ein Paradigmenwechsel vom Shareholder Value zu einem neuen Wertbeitrag, der Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen berücksichtigt, sei in vollem Gang.

Als Auslöser für die dringend geforderte Produktionswende sehen die vier führenden Köpfe der Aachener Produktionstechnik, die Professoren Thomas Bergs, Christian Brecher, Robert Schmitt und Günther Schuh, neben der aktuellen gesellschaftlichen Wertediskussion auch die daraus folgenden Veränderungen am Kapitalmarkt. Eine rein finanzielle Betrachtung der Produktivität sei heute überholt, stattdessen sei eine stärkere Orientierung an der Nachhaltigkeit von Produkten und Dienstleistungen sowie den dazugehörigen Herstellungsprozessen gefordert. Als wichtigsten Befähiger dieser Produktionswende nennen sie das Internet of Production: die durchgängige Digitalisierung und Vernetzung von Maschinen und Anlagen innerhalb der Produktions- und Wertschöpfungskette.

Auch die Veranstalter der Weltleitmesse der Metallbearbeitung haben die Zeichen der Zeit erkannt: Auf der Relaunch-Konferenz zur EMO Hannover im September definierten sie die Leitthemen, die die Branche künftig prägen werden. Das Messe-Motto „Innovate Manufacturing“ adressiere eben nicht nur die Technik, erklärte Hans-Martin Welcker, Generalkommissar der EMO Hannover 2023. Vielmehr wolle die EMO Hannover künftig auch Themen besetzen, die für die Produktionstechnologie und ihre Abnehmerbranchen überall in der Welt relevant seien: Konnektivität, Nachhaltigkeit in der Produktion und neue Geschäftsmodelle mit Fokus auf „Arbeit 4.0“. Das seien die großen Themen, die Industrie und Gesellschaft in den kommenden Jahren anpacken müssten, um sich zukunftsfähig aufzustellen und die dringend anstehenden Aufgaben bewältigen zu können. Als da wären: Energiewende, Klimawandel, Nachhaltigkeit in der Produktion, neue Wettbewerber, Transformation wichtiger Abnehmerbranchen, Digitalisierung, Veränderung der Arbeitswelt, neue datengetriebene Geschäftsmodelle u. v. m. 

Know-how fehlt an vielen Stellen

Doch gerade in Fragen der Energieversorgung und -effizienz fehlt es vielen Unternehmen an personeller und technologischer Expertise. Mehr als die Hälfte der in der eingangs erwähnten HRI-Studie befragten Firmen stehen vor diesem Problem. Und 70 % geben zu, ihre Kenntnisse über die öffentlichen Fördermöglichkeiten für betriebliche Klimaschutzmaßnahmen reichten nicht aus.

Eine Lösung, um die ambitionierten Klimaziele zu erreichen, können Contracting-Modelle sein. Dabei handelt es sich um eine vertraglich geregelte Umsetzung der Energieversorgung in Gebäuden oder Produktionsanlagen durch einen Dienstleister. Der Vorteil: Kosten- und Ergebnisrisiken werden auf den Servicepartner verlagert. Dr. Jörg Lichter, Leiter der Studie beim HRI, resümiert: „Vor dem Hintergrund unserer Studienergebnisse sprechen gute Argumente dafür, Contracting einen größeren Raum als bisher einzuräumen, um insbesondere die im Mittelstand vorhandenen großen Klimaschutzpotenziale schnell und umfassend auszuschöpfen.“

Aber auch in der Industrie selbst gibt es Ansätze, wie Know-how-Transfer in puncto Nachhaltigkeit funktionieren kann. So hat sich die im vergangenen Jahr gegründete Bosch Climate Solutions auf die Fahnen geschrieben, die eigenen Erfahrungen weiterzutragen und auch Kunden bei der CO2-Reduzierung zu unterstützen.

Indes wächst in der Fertigungsindustrie das Bewusstsein, dass Produktivität und Nachhaltigkeit künftig zwei Seiten derselben Medaille sein werden. Nicht umsonst weist Welcker darauf hin, dass die „Klassiker“ Qualität, Effizienz, Flexibilität und Zuverlässigkeit nach wie vor den Takt der Entwicklung in der Produktionstechnologie angeben werden. Denn Nachhaltigkeit der Fertigungstechnik entstehe in einer Wechselwirkung zwischen den Anforderungen des Kunden an sein Produkt, der daraus abzuleitenden Produktionskonzeption, den verwendeten Betriebsmitteln und Werkzeugen und ihrer effizienten, nachhaltigen Nutzung. „Dies zu ermöglichen, ist und bleibt das Kerngeschäft unserer Branche – von Serienprodukten bis hin zu individuellen Einzellösungen.“

Hier schließt sich der Kreis zum beherrschenden Technologiethema der vergangenen Jahre: der Digitalisierung. „Besseres Wissen über Produkte und Prozesse ist grundsätzlich ein guter Ansatzpunkt für die fortschreitende Optimierung“, so Welcker. „Damit einher gehen schlankere Prozesse, bessere Effizienz und geringere Verschwendung.“ Um die dazu notwendigen Informationen zu bekommen, setzt er auf offene Schnittstellen – beispielsweise auf Basis von OPC UA, deren Verbreitung sich die Initiative Umati des VDW und VDMA auf die Fahnen geschrieben hat.

Konnektivität als Basis für die Datenerfassung ist das eine, ihre Analyse und Auswertung das andere. Und hier werden künstliche Intelligenz und Machine Learning in den kommenden Jahren entscheidende Faktoren sein. Ein Beispiel, das Mut macht, hat jüngst KI-noW geliefert, eine Außenstelle des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Eine Fallstudie mit dem Automobilzulieferer Brose zeigt, wie die Werkzeugstandzeit in der CNC-Zerspanung durch Datenerfassung und -analyse mittels maschineller Lernverfahren optimiert werden kann. Zur Ermittlung von Signalmustern, die auf einen Werkzeugverschleiß hindeuteten, wurde eine Anlage mit verschiedenen Sensoren vernetzt, die Daten sammeln. Auf dieser Datengrundlage konnte anschließend eine umfassende Analyse aufgebaut werden. Sie ermöglicht, geeignete Modelle zur Detektion von Werkzeugverschleiß zu trainieren und damit einen kritischen Werkzeugzustand frühzeitig zu erkennen sowie Kosten zu sparen.


„Die Industrie ist im steten Wandel und steht vor gigantischen Herausforderungen“, sagte VDW-Geschäftsführer Dr . Wilfried Schäfer auf der EMO Hannover Relaunch-Conference im September. Bild: Deutsche Messe/VDW

EMO Hannover 2023 fokussiert Zukunftsthemen der Produktion

Unter dem Leitthema „Innovate Manufacturing“ haben die Veranstalter der EMO Hannover 2023 im September ihr neues Messekonzept präsentiert. Es orientiert sich an drei Zukunftstrends, die die Welt der Metallbearbeitung in den kommenden Jahren nachhaltig beeinflussen werden. Neben Nachhaltigkeit sind das Konnektivität und neue Geschäftsmodelle mit Fokus auf Arbeit 4.0. „Die Industrie ist im steten Wandel und steht vor gigantischen Herausforderungen. Das wird die EMO Hannover als Weltleitmesse abbilden, transparent machen und Lösungen aufzeigen, wenn sie auch in Zukunft relevant bleiben will“, erläutert Dr. Wilfried Schäfer, Geschäftsführer beim Veranstalter VDW (Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken). „Innovate Manufacturing adressiert die Herausforderungen für die Industrie in den kommenden Monaten und Jahren“, ergänzt EMO-Generalkommissar Carl-Martin Welcker. Das betreffe nicht nur die Technik. Vielmehr wolle die EMO Hannover künftig auch Themen besetzen, die für die Produktionstechnologie und ihre Abnehmerbranchen überall in der Welt relevant seien.


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