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„Wir bauen eine deutsch- chinesische Smart Factory auf“

Helmut Frotscher, Geschäftsführer, Kelch GmbH
„Wir bauen eine deutsch- chinesische Smart Factory auf“

Autor: Das Interview führte:

mav: Seit wann führen Sie die Geschäfte bei Kelch?

Frotscher: Ich habe die Geschäftsführung im April 2012 übernommen, auch auf Drängen der Mutterfirma HMCT. Ich hatte bereits mehrere Jahre für die staatlich geführte Genertec Gruppe gearbeitet, die seit 2012 wiederum der Haupteigentümer von Harbin ist.
mav: Welchen Auftrag hat man Ihnen mitgegeben?
Frotscher: Ich bin mit dem Auftrag angetreten, die Firma komplett zu restrukturieren und neu auszurichten.
mav: Der Neustart von Kelch lag da bereits zwei Jahre zurück. Woran hatte es zuvor gehakt?
Frotscher: Es hatte dort einen Innovationsstau über viele Jahre gegeben. Erst 2012 haben wir begonnen, wieder die ersten richtigen Neuentwicklungen zu machen. Aber das Ganze hatte ja auch eine Vorgeschichte.
mav: Die wäre?
Frotscher: Beim Neustart als Kelch GmbH 2010 hatte das Unternehmen ja bereits die zweite Insolvenz hinter sich. Der Ursprung des Niedergangs lag eigentlich in einem klassischen Nachfolgeproblem begründet. Die Familie Kelch hat einzelne Firmenteile herausverkauft, der Rest ging schließlich in die Insolvenz. Aus dieser heraus wurde die Firma 2005 von HMCT erworben. In den Jahren danach hat man sich als Kelch & Links GmbH etwas auf den alten Technologien ausgeruht und wenig Neues gewagt. Es war aus meiner Sicht auch ein Managementfehler, dass mehr als 50 Prozent des Geschäfts über einen großen Handelspartner lief. 2009 wurde dieser Vertrag nicht mehr verlängert, und zugleich wirkte die Lehman-Krise nach, die der gesamten Werkzeugmaschinenbranche 30 bis 40 Prozent Einbrüche bescherte. So ist die Firma dann schließlich erneut in die Insolvenz gegangen.
mav: Der Einstieg der Chinesen 2005 war zum damaligen Zeitpunkt noch etwas Neues und wurde in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert…
Frotscher: Ja, da waren viele Emotionen drin. Aber ich kann nur sagen, für Kelch war das letztlich ein positiver Schritt. Wir profitieren heute sehr davon. Die Zeiten, als Chinesen Firmen aufkauften, alles nach China transferierten und die Standorte abwickelten, sind längst vorbei. Für sie ist das die Chance, einen Fuß in den europäischen Markt zu bekommen. Dafür brauchen sie uns. Umgekehrt eröffnen sich für die deutsche Industrie ebenso große Chancen – wenn es uns gelingt, immer einen Schritt voraus zu sein. Für ein deutsches Produkt, auf dem die Marke Kelch prangt, zahlen die Kunden in China 20 oder 30 Prozent mehr Geld als für ein chinesisches Produkt. Der Stellenwert ist immer noch sehr hoch.
mav: Wie ist HMCT in China positioniert? Ist das Portfolio mit Ihrem vergleichbar?
Frotscher: Es ist ähnlich. Harbin ist in China der größte Hersteller für Werkzeuge. Sie machen klassische HSS-Werkzeuge, Bohrer, Gewindebohrer, sind auch stark im Geschäft mit Zahnrad-Messmaschinen. Sie haben also wie wir eine Struktur, die von Investitionsgütern im Bereich Werkzeuge und Werkzeugaufnahmen geprägt ist. Was wir seit 2005 zusätzlich mit hineingebracht haben, ist die Werkzeug-Einstelltechnik.
mav: Wie setzt sich Ihr eigenes Produktportfolio heute zusammen?
Frotscher: Unser klassisches Geschäft sind die Präzisionswerkzeughalter sowie die Messmittel für deren Produktion, mit denen wir auch fast alle Wettbewerber in diesem Bereich beliefern. Wir bieten auch einige Logistikprodukte an, die wir über Lieferanten abdecken. Der zweite Bereich sind die Werkzeug-Einstellgeräte. Seit 2013 sind wir zudem in der Werkstückvermessung aktiv. Die mechanische Basis ist dieselbe wie bei unseren Werkzeug-Einstellgeräten, lediglich die Software und zum Teil auch die Sensorsysteme sind anders.
mav: Wer setzt das ein?
Frotscher: Eine entsprechende Anlage haben wir Anfang letzten Jahres bei einem großen Automobilhersteller in Betrieb genommen. Das Gerät steht neben der Werkzeugmaschine, und alle 11 Sekunden fällt ein Getriebeteil heraus, das zu 100 Prozent geprüft wird. Die Anlage läuft sehr gut, und wir haben bereits einen Folgeauftrag eines Zulieferers in Indien erhalten. Dort haben wir quasi das gleiche Gerät noch einmal aufgebaut.
mav: Welche Maßnahmen haben Sie ergriffen, um den Innovationsstau zu lösen?
Frotscher: Ich habe zuallererst ein Produkt- und Innovationsmanagement aufgebaut. Das gab es vorher nicht. Das Produktmanagement war aktionsgetrieben und wenig strategisch. 2012 haben wir ein neues Business System eingeführt, das die Prozesse für alle Mitarbeiter für ihren täglichen Nutzen transparent macht. Herzstück ist das Kelch Produktinnovationssystem, das alles von der Produktstrategie bis hin zu Produktpflege und -auslauf abdeckt. Das Innovationsteam arbeitet dabei losgelöst vom Tagesgeschäft oder von konkreten Kundenwünschen.
mav: Ist das eine Eigenentwicklung?
Frotscher: Es ist eine komplette Eigenentwicklung auf Basis von Microsoft Office, die sich auch als Navigationssystem auf ein bereits vorhandenes ISO/9000-Prozesshandbuch aufsetzen lässt. Ich habe das zuvor schon in anderen Firmen erfolgreich eingeführt. Wir hatten auch bereits Kunden hier, die daran sehr interessiert waren.
mav: Welche Produktneuheiten sind seitdem auf den Weg gebracht worden?
Frotscher: Mit dem Kenova set line V224 haben wir ein handliches Einstellgerät für unter 6000 Euro auf den Markt gebracht. Wir haben auch unsere Premium-Einstellgeräte erneuert – die V9-Serie mit voller CNC-Steuerung, auch mit integrierter Schrumpftechnik. Dabei haben wir den Grundkörper aus Grauguss durch Mineralguss ersetzt.
mav: Was ist der Vorteil?
Frotscher: Es spart zum einen Ressourcen in der Herstellung, zum anderen bringt es auch produktionstechnische Vorteile für uns: Die Bearbeitung der Graugussteile, die aus der Gießerei geliefert wurden, war sehr kostenaufwändig – auch weil wir am neuen Standort in Weinstadt nicht mehr über den umfangreichen Maschinenpark verfügen wie früher in Schorndorf. Jetzt bekommen wir die Grundkörper direkt vom Lieferanten abgegossen, mit einer sehr hohen Genauigkeit, und wir müssen nur noch unsere Führungsschienen und Komponenten montieren. Dadurch sind wir auch viel schneller geworden: Früher betrug die Lieferzeit für diese Geräte 12 bis 16 Wochen, heute liefern wir ein Standardgerät in 2 Wochen.
mav: Was wird aktuell in Deutschland produziert, was in China?
Frotscher: Hier produzieren wir noch Prototypen, die Premium-Produkte und Sonderlösungen sowie unsere Spindeln, die sehr genau sind und mit denen wir uns vom Wettbewerb abheben. Alles andere fertigen wir in China. Das V224 beispielsweise haben wir hier entwickelt, ein Jahr lang produziert und die ganzen Kinderkrankheiten herausgefiltert. Als die Produktion gelaufen ist, haben wir sie nach China verlagert.
mav: Ist der Produktionsstandort in Deutschland nicht irgendwann in Gefahr, ganz zu verschwinden?
Frotscher: Nein. Ich würde sogar sagen, wir sind hier auf Dauer nur lebensfähig, wenn wir die Fertigung in China haben. Kelch hat im vergangenen Jahr 13,4 Millionen Euro Umsatz gemacht, aber die ganzen Kelch-Produkte, die über China geliefert wurden, machen noch einmal 6 bis 7 Millionen Euro aus, die bei uns gar nicht in die Bücher gehen. Wir werden künftig weniger Produktionsstätte sein, sondern vielmehr Technologie entwickeln – auch für China. Wir werden hier kaum neue Fertigungsmitarbeiter einstellen, aber Tool Manager und Systemintegratoren. Dort werden wir in den kommenden Jahren wachsen. Gerade Dienstleistungen im Bereich Smart Factory und Industrie 4.0 eröffnen große Chancen für uns. Wir sind ja selbst permanent konfrontiert damit, Schnittstellen in unsere Einstellgeräte zu implementieren – zu CAD/CAM-Systemen, zu Werkzeugverwaltungssystemen, zu ERP-Systemen. Wir werden nicht nur unsere eigene Fertigung umbauen, um diese Vernetzung zu gestalten, sondern unsere Expertise auch als Dienstleistung vermarkten, unter dem Begriff Smart Factory Services (siehe Grafik auf S. 26). Und wir übertragen das Ganze auch nach China.
mav: Wie läuft das ab?
Frotscher: Wir sind zum Beispiel dabei, die Produktion unserer Werkzeugaufnahmen mit Polygonschaftkegel (PSC) nach China zu verlagern. PSC ist nicht einfach zu fertigen, dafür brauchen sie die richtigen Messmittel, und der ganze Prozess muss stimmen. Wir haben das komplette Fabriklayout gemacht, welche Werkzeugmaschinen sie dort brauchen, wie der Werkzeugfluss ist. Unsere NC-Programme konnten mit wenigen Adaptionen auf die chinesischen Maschinen übertragen werden. Auf diese Weise bringen wir die chinesische Fertigung auf deutsches Niveau. Bei den Werkzeugaufnahmen sehen sie mittlerweile keinen Qualitätsunterschied mehr, weil wir die gleichen Fertigungsprinzipien und Qualitätsrichtlinien haben. Wir haben seit der Übernahme viel Zeit aufgewendet, um die chinesische Mutter wettbewerbsfähig zu machen. Durch die Vernetzung können wir jetzt flexibler auf den Markt reagieren. Und die Kombination von Technologie und Qualität mit den niedrigeren Fertigungskosten in China verschafft uns einen Wettbewerbsvorteil. Dadurch sind wir besser aufgestellt als viele vergleichbare Mittelständler, die dort agieren. Im nächsten Schritt werden wir auch das Procurement global aufziehen.
mav: Wie werden Sie das umsetzen?
Frotscher: Im kommenden Jahr wollen wir uns mit unserer Fabrik in China komplett vernetzen. Im Prinzip werden wir diese dann von hier aus steuern. Wenn wir neue Produkte oder Erweiterungen auflegen, machen wir die CAD/CAM-Entwicklung, und das Ergebnis geht dann direkt auf die Maschine in China. Wir können den Kunden künftig präzise über den Stand seines Auftrags informieren, auch wenn er in Fernost gefertigt wird. Hinzu kommt die Integration mit unserem ERP-System. Wir wollen auch das Sourcing global steuern. Bisher kaufen wir unabhängig voneinander ein, aber China hat die fünffache Kapazität und entsprechende Mengenvorteile, die wir nutzen können. Der Masterplan, der auch mit den Chinesen abgestimmt wurde, ist die komplette Vernetzung im Sinne von Industrie 4.0. Bis Ende 2017 werden wir die Produktivität in China verdoppeln und eine deutsch-chinesische Smart Factory betreiben.
mav: Wie begegnen Sie der immer wieder beschworenen Gefahr, dass die Chinesen die deutsche Technologie über kurz oder lang „wegkaufen“ könnten?
Frotscher: Ich denke, dass sich die Einstellung der Chinesen in diesem Punkt sehr verändert hat. Sie haben erkannt, wie wichtig Flexibilität und Knowhow sind, über die Deutschland verfügt. In China gibt es Hochschulabsolventen zuhauf, aber die Qualität können Sie nicht mit der hiesigen vergleichen. Es ist immer noch ein Riesenschritt von der Theorie in die Praxis. Allein das Qualitätsbewusstsein, das den Deutschen in Fleisch und Blut übergegangen ist, fehlt dort vielfach, und man muss es immer wieder forcieren.
mav: Wie bewerten Sie die Übernahme rückblickend?
Frotscher: Für uns hat die Zusammenarbeit viele Vorteile gebracht. Wir haben am Anfang Entwicklungsgelder aus China bekommen, ohne die wir uns als Startup die Neuorganisation und den Aufbau des Produktmanagementsystems überhaupt nicht hätten leisten können. Wir erhalten auch Aufträge in China, an die wir sonst nicht kommen würden. Das Potenzial ist dort riesig, selbst wenn wir nur die Staatsfirmen bedienen. Genertec allein macht 6 bis 7 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr und gehört zu den Top-500-Firmen weltweit.
mav: Was erwarten Sie für die Zukunft von Kelch?
Frotscher: Wir waren zuletzt sehr erfolgreich, haben in unseren angestammten Märkten wie der Automobilindustrie wieder Neugeschäft generieren können. Dabei profitieren wir auch von unserer Nachhaltigkeit. Wir haben eine große installierte Basis und rüsten auch Geräte nach, die schon zwanzig Jahre alt sind. Im vergangenen Jahr haben wir den Break-even geschafft und erstmals wieder schwarze Zahlen geschrieben. Angesichts unserer neuen Produkte wie der Werkstückvermessung oder den Smart Factory Services bin ich zuversichtlich, dass wir unseren Umsatz innerhalb der nächsten fünf Jahre verdoppeln können.
Kelch GmbH www.kelch.de

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