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Komplexität bewirtschaften

Einführung von Industrie 4.0 in Produktionssysteme
Komplexität bewirtschaften

Weil die Produktion immer komplexer wird, muss sie sich künftig auf Basis von echtzeitnahen Informationen und cyber-physischen Systemen (CPS) selbst organisieren. Die Menschen in einer solchen Produktion werden die Komplexität einer Produktion nicht nur managen, sondern „bewirtschaften“. Welche Industrie 4.0-Technologien dabei auf welche Weise in Unternehmen eingeführt werden können und welches Optimierungspotenzial sie haben, wird hier beleuchtet.

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Wir werden im Zuge der Vierten Industriellen Revolution eine Wende aller Produktionsfaktoren benötigen, wenn wir Nachfrage und Angebot zukünftig nachhaltig in Einklang bringen wollen. Die Energiewende setzt auf regenerative Energie und Energieeffizienz statt fossiler Energieträger. Viel wichtiger als die Energiewende wird voraussichtlich die Materialwende sein. Die Frage: Wie schaffen wir es Recycling-Kreisläufe zu schließen? Die Personalwende fokussiert auf die demografischen Veränderungen und den Fachkräftemangel, der kein deutsches, sondern ein globales Problem ist. Bei der Kapitalwende geht es im Wesentlichen darum, dass sowohl die volkswirtschaftlichen Finanzierungsansätze als auch die unternehmerischen Finanzierungsansätze im Lichte der Finanzmarktkrisen überdacht werden müssen. Die Art und Weise wie wir Fabriken organisieren, wie wir unsere Führungssysteme gestalten, also die dispositiven Faktoren, müssen sich ebenfalls ändern. Diese Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigen Produktion weltweit treibt die Komplexität von Unternehmen.

1. Neue Anforderungen an den Produktlebenszyklus
Die Vielfalt heute eingesetzter Technologien und das Fehlen dominanter Designs werden gemeinsam mit einer noch weiter wachsenden Individualisierung und Personalisierung der Produkte und Dienstleistungen zu einer „Komplexitätsexplosion“ führen.
Die Zahl derjenigen, die am globalen Konsum partizipieren wollen und damit auch für Wachstum sorgen, wird rasant anwachsen. Dieses Wachstum wird hauptsächlich in den Entwicklungsmärkten stattfinden. In den entwickelten Ländern wird man auf hochindividualisierte Produkte setzen müssen, also auf personalisierte Produkte, die exakt auf die Bedürfnisse der einzelnen Konsumenten zugeschnitten sind. In den Entwicklungsmärkten hingegen sind stark regionalisierte Produkte gefragt, die hinsichtlich Funktionalität, Design und Kosten an den Bedürfnissen dieser Märkte orientiert sind.
Der hohe Vernetzungs- und Individualisierungs- bzw. Personalisierungsgrad führt dann zu einer immer höherer Komplexität, was die Produktion vor neue Herausforderungen stellt Bild 2.
Wachsende Komplexität bedeutet immer ein Mehr an Dezentralisierung und Autonomie im Unternehmen. Nur so können ausreichend komplexe unternehmensinterne Strukturen entstehen, mit denen das hohe Maß an externer Komplexität erfolgreich „bewirtschaftet“ werden kann Bild 1. Während mit Kompliziertheit die Vielzahl und Vielfalt von Systemen, Problemen, Algorithmen oder Daten gemeint ist, die aber weiterhin berechenbar und exakt prognostizierbar bleiben, muss man angesichts der Dynamik und Intransparenz von Komplexität lernen loszulassen. Komplexität haben Manager also nicht mehr immer im „Griff“. Also werden Ansätze benötigt, um die Komplexität optimal zu bewirtschaften, das heißt wertschöpfend mit ihr umzugehen. Zunächst müssen Unternehmen analysieren, was die ihnen angemessene innere Komplexität ist. Im Anschluss stellt sich die Frage, wie stellt sich das Unternehmen auf, um hoch wandlungsfähig und flexibel auf diese hohe Dynamik und Intransparenz reagieren zu können?
2. Ansätze der Vierten Industriellen Revolution
Nur cyber-physische Systeme (CPS) genügen dem Personalisierungs- und Vernetzungsdrang der künftigen Produktion. Das führt dazu, dass die Produktgestaltung im Rahmen von Industrie 4.0 vollkommen neu aufgestellt wird.
Heute denkt der Unternehmer im produzierenden Gewerbe zunächst an seine Anforderung, er denkt an ein mechanisches Produkt, das er ausgestaltet. Es folgt die Entwicklung einer passenden Elektrik und dann der Software. So entsteht heute ein mechatronisches Produkt.
Künftig fängt der Unternehmer damit an, das Geschäftsmodell zu entwickeln. Er überlegt sich die Ertragslogik seiner Gesamtleistung. Dann wird entschieden, welche Funktionen gebraucht werden, welche Funktionen von anderen Dienstleistern in Form von Vernetzung und Internetservices eingebracht werden und welche Funktionen tatsächlich im Produkt realisiert werden müssen. Im Anschluss geht es dann an die Funktionsrealisierung. Hier werden Internet-Services, Software, Elektronik und Elektrik eine große Rolle spielen. Erst ganz am Schluss kommt die Mechanik (das physikalische Gerät). Wir drehen quasi den Fokus der Produktgestaltung um!
3. Potenziale einer erfolgreichen Umsetzung
Im Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird zu Unrecht fast ausschließlich über Technologien und cyber-physische Systeme gesprochen. CPS sind aber nicht nur Produkte, sie werden auch in Form von Produktionsmitteln in der Fertigung eingesetzt (Dual Use). Das ergibt die Basis für eine weitere Steigerung der Dezentralisierung und Autonomie.
Die Industrie kann nur nutzenorientiert wirklich verändert werden. Der Nutzen entsteht im Markt, im eigentlichen Geschäftsmodell. Daher muss die Argumentation über die Nutzenpotenziale, über den Markt kommen. Damit kann man den beteiligten Firmen transparent machen, dass es sinnvoll ist, in diese Veränderung zu investieren. Das ist nicht nur eine Investition in neue Technologie, sondern auch eine Investition in neue Geschäftsmodelle, in neue Organisationsformen und in die Mitarbeiter. Dieser Schritt will wohl überlegt sein und muss entsprechend vorbereitet werden. Daher soll an dieser Stelle eine Abschätzung der Nutzenpotenziale vorgestellt werden, die klar macht, welche Potenziale, durch Industrie 4.0 erschlossen werden können.
Bild 3 zeigt die unterschiedlichen Kostenbereiche (Bestandskosten, Fertigungskosten, usw.). Es sind die Effekte dargestellt und die entsprechenden Potenziale. Es wird klar, dass es in fast allen, insbesondere aber in den indirekten Bereichen, sehr große Potenziale gibt. Bestandskosten können beispielsweise um 30 bis 40 Prozent gesenkt werden, weil man auf Basis von Echtzeitinformationen in der Lage ist, Sicherheitsbestände zu minimieren und vor allem Bullwip- und Burbidge-Effekte in der Supply-Chain zu reduzieren. Die Fertigungskosten müssten nach unserer Ansicht auch stark nach unten gehen, denn aufgrund der Prozessregelkreise und der besseren Echtzeitinformation, kann der OEE an den Maschinen weiter erhöht werden. Außerdem entsteht die Möglichkeit, das Personal, sowohl vertikal als auch horizontal, hinsichtlich der Flexibilität optimiert einzusetzen. Dadurch ergibt sich ein Potenzial von 10 bis 20 Prozent Kosteneinsparung. Auch die Logistikkosten können durch höhere Automatisierungsgrade (autonome Transportsysteme etc.) gesenkt werden. Die Lagerhaltungskosten gehen entsprechend nach unten, es kann bei einer vorsichtigen Einschätzung davon ausgegangen werden, dass 10 bis 20 Prozent Einsparung möglich sind. In den Komplexitäts-kosten sehen wir die größten Potenziale. Hier setzt die Industrie 4.0 an!
Die Komplexitätskosten entstehen häufig in den indirekten Bereichen und hier erhöht sich auch die Produktivität, weil viel Verschwendung vermieden wird. Beispielsweise die Reduktion von Trouble-Shooting oder aber auch die Erweiterung von Leitungsspannen, weil die Gruppen selbstorganisiert sind. Hier sind sogar Einsparungen von 60 bis 70 Prozent möglich. Auch bei den Qualitätskosten gibt es Sparpotenzial. Wir können in Echtzeit auf Qualitätsdaten zugreifen oder Qualitätsdaten unternehmensübergreifend austauschen, echtzeitnahe Regelkreise aufbauen und auch dadurch, dass beispielsweise Mehrfachmessungen von Produkten in unterschiedlichen Institutionen reduziert werden können, sind in Summe ebenfalls 10 bis 20 Prozent Reduktion der Qualitätskosten vorstellbar.
Es gibt weiterhin ein großes Potenzial in der Instandhaltung. Die Lagerhaltung der Ersatzteile kann optimiert werden, indem zu einer zustandsorientierten Wartung übergegangen wird, das kann ein CPS-System als Dienst anbieten. Apps können helfen, die Instandhaltungsfelder zu priorisieren. Natürlich können sie auch bei der Reduzierung von Instandhaltungszeiten bzw. -aufwänden helfen, durch eine bessere Vorbereitung die bewirkt, dass man über augmentierte Realität schneller zum Problem vordringt, geführt über ein Werkzeug. So erfolgen dann auch Reparaturen von Systemen einfacher und schneller. Das heißt, hier gibt es ein enormes Nutzenpotenzial. Es gibt viele Industrieexperten, die das in ihren Firmen bereits umsetzen oder in Teilen schon umgesetzt haben. Sie bestätigen Produktivitätsfortschritte von bis zu 50 Prozent, je nach Komplexität des Produktionsfalls, mithilfe dieser Industrie 4.0- Ansätze und -Konzepte.
4. Modell für die Einführung von Industrie 4.0
Die Bewertung der Industrie 4.0-Potenziale im eigenen Unternehmen erfolgt am besten über sogenannte „Use Cases“. Das sind Anwendungsszenarien, die Industrie 4.0-Technologien nutzen und über die Anwendung deren Nutzen transparent machen. Zunächst wird im Unternehmen gemeinsam überlegt, welche Use Cases sinnvoll für die eigene Anwendung sind und mit Industrie 4.0-Technologien möglich sind. Am Fraunhofer IPA wurde ein werkzeuggestützter Prozess entwickelt, mit dem Unternehmen sich dem Thema annähern und die Technologien der Industrie 4.0 in der eigenen Wertschöpfungen und in den Produktionssystemen verankern können Bild 4.
Mit Hilfe dieser Vorgehensmethodik kann in sieben Schritten das Nutzenpotenzial verschiedener Industrie 4.0-Aspekte für einzelne Unternehmen objektiv eingeschätzt und die Einführung systematisch geplant und durchgeführt werden.
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA www.ipa.fraunhofer.de

Der Autor

Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl leitet das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart, sowie die Institute für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) und für Energieeffizienz in der Produktion (EEP) an der Universität Stuttgart.
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