Startseite » Allgemein »

„Wir Wissenschaftler sollten auf den Mittelstand zugehen“

Prof. Dr. Reinhard Hüttl, Präsident, Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech)
„Wir Wissenschaftler sollten auf den Mittelstand zugehen“

„Wir Wissenschaftler sollten auf den Mittelstand zugehen“
Seit knapp acht Jahren ist Prof. Dr. Reinhard Hüttl Präsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Acatech. Im Jahr 2008 gegründet, zählt sie zu den führenden der 22 Akademien für Technikwissenschaften in Europa. Bild: D. Ausserhofer, GFZ
Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) will Politik und Gesellschaft beraten. Ihr Präsident Reinhard Hüttl bezieht Stellung zu Industrie 4.0 und zu den Forschungsaktivitäten des Mittelstandes.

mav: Zur Jahreswende 2015/16 ist der sogenannte Innovationsindikator erstmals von Acatech gemeinsam mit dem BDI mitherausgegeben worden. Weshalb?

Hüttl: Die Entwicklung von Innovationen kostet Geld, ist aber auch eine zentrale Quelle nachhaltigen Wohlstands. Ein Kernelement unserer Akademie ist, dass alle Mitglieder Wissenschaftler sind und dass im Senat etwa 100 technologisch orientierte Unternehmen vertreten sind. Insofern haben wir einen guten Zugang zu Forschung und Entwicklung in Unternehmen, die etwa zwei Drittel der deutschen Ausgaben für Forschung und Entwicklung von aktuell 83 Milliarden Euro bestreiten. Deswegen war der Innovationsindikator für uns schon immer wichtig. Die Chance, dass Acatech sich daran beteiligt und wir uns inhaltlich einbringen können, haben wir gerne genutzt. Die Innovationslandschaft Deutschland international einzuordnen, sehen wir als wichtige Aufgabe.
In der aktuellen Studie stechen zwei Kernaussagen hervor: Einerseits hat kein anderes Land der Welt so viele „Hidden Champions“ wie Deutschland – Weltmarktführer in einem definierten Sektor. Andererseits dokumentieren viele deutsche KMUs eher Forschungslethargie. Sie erzielen – so die Studie – „Innovationserfolge ohne formale Forschung und Entwicklung“. Wie interpretieren Sie das?
Hüttl: Forschung bei klein- und mittelständischen Unternehmen lässt sich nicht allein an den formal ausgewiesenen Unternehmensausgaben für Forschung und Entwicklung messen. Unsere Typologie von innovativen KMUs zeigt: Viele sind ohne eine eigene Forschungsabteilung innovativ. Sie entwickeln Neuheiten im Zusammenspiel kleiner Teams, weil sie besonders nah am Kunden sind. Es findet jedoch eine radikale Veränderung statt, bei der die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielt – Stichwort „Industrie 4.0“. Wenn Unternehmen sich zu sehr auf bewährte Muster verlassen, gefährden sie ihre Marktposition. Dieser Veränderungsdruck ist bereits für Großunternehmen eine Herausforderung – umso mehr für Mittelständler. Zugleich entstehen Chancen für neue Unternehmen, denken Sie etwa an die Berliner Start-up-Szene. Zentrale Herausforderungen in Deutschland sind deshalb unsere relativ niedrige Gründungsdynamik, die Wachstumsbedingungen für Startups und die Beteiligung von KMUs an Forschungs- und Entwicklungskooperationen – denn diese scheitert oft schon an hohen bürokratischen Hürden.
Noch immer gibt es Berührungsängste zwischen Wissenschaftlern und KMU-Managern. Auch dies streicht der aktuelle Innovationsindikator heraus. Daran hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel geändert…
Hüttl: An den Hochschulen hat sich viel getan. Denken Sie an die Dualen Studiengänge, oder auch an die Berufsakademien oder die vielen Weiterbildungsaktivitäten. In einem gebe ich Ihnen recht: Gegenüber führenden Forschungseinrichtungen haben kleinere Unternehmen noch zu viel Respekt – wir brauchen Plattformen, Initiativen und Programme mit möglichst niedrigen Einstiegshürden. Ein gutes Beispiel für den Abbau der Berührungsängste sind die 15 bundesweit ausgewiesenen Spitzencluster. Dort ist es gelungen, kleinere Unternehmen mit großen zusammenzubringen und die führenden wissenschaftlichen Einrichtungen zu integrieren.
Was müsste sich ändern, um dem deutschen Mittelstand Forschung schmackhaft zu machen?
Hüttl: Kleinen und mittleren Unternehmen sollte man es möglichst einfach machen, an Kooperationen von Forschung und Wirtschaft teilzunehmen – also niedrige Zugangshürden. Zweitens brauchen wir ein stärkeres Bewusstsein, dass der Erfolg in einer Marktnische nicht davon abhalten sollte, gemeinsam mit Hilfe von Forschung neue Perspektiven zu entwickeln. Es wäre auch gut, wenn sich an der Reputation von Wissenschaftlern etwas verändern ließe, die noch vorrangig auf Publikationen in wichtigen internationalen Journalen beruht. Klar, der Nachweis von Gravitationswellen ist ein Durchbruch. Doch ist es von der Gesellschaft her betrachtet nicht ebenso ein Durchbruch, wenn Forscher und Praktiker gemeinsam den Reifenabrieb signifikant verringern? Dies würde die Feinstaubbelastung spürbar senken.
Wie könnte man den Praxisbezug honorieren?
Hüttl: Dadurch, dass der Wissenstransfer, den Wissenschaftler leisten, ins Rampenlicht gestellt wird. Oder dass bei nachgewiesenen Technologietransferleistungen eine weitere Stelle am Institut finanziert wird. Bei uns in der Helmholtz-Gemeinschaft ist man da schon unterwegs. Jede Arbeitsgruppe überlegt inzwischen, was aus ihrer Forschung zur Anwendung kommen könnte. Generell gilt: Wir Wissenschaftler sollten von uns aus auf den Mittelstand zugehen.
Braucht Deutschland ein Technologie- und Innovationsministerium?
Hüttl: Acatech wird ja sowohl vom Bund als auch von den Ländern gefördert und arbeitet je nach Thema mit unterschiedlichen Ministerien zusammen. In einigen Bundesländern ist die Innovation bereits gut integriert: In Nordrhein-Westfalen sind Wissenschaft, Bildung und Innovation in einer Hand. In Berlin ist die Helmholtz-Gemeinschaft beim Wirtschaftssenator, während die Universitäten beim Wissenschaftssenator angebunden sind. Ähnlich ist es in Bayern. Wir haben also keine einheitliche Zuständigkeit. Trotzdem erkenne ich eine erfreuliche Dynamik. In den Ministerien erleben wir ein zunehmendes Interesse an der Thematik Innovation.
Seit einigen Jahren ist Industrie 4.0 das beherrschende Thema bei der zukünftigen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft. Was trägt Acatech dazu bei?
Hüttl: Unsere Akademie hat den Begriff geprägt und ihn anlässlich der Hannover Messe 2011 zusammen mit anderen in die große Öffentlichkeit gebracht. Maßgeblichen Anteil hat dabei mein Co-Präsident Henning Kagermann. Mit dem Begriff wollen wir auf die grundsätzliche Veränderung in der Industrieproduktion hinweisen. Die 4 steht dabei für die vierte industrielle Revolution – nach der Dampfmaschine, der Elektrifizierung und Fließbandarbeit, der Mikroelektronik und Robotik folgt nun die Vernetzung und Individualisierung der Produktion und Dienstleistungen.
Was ist an Industrie 4.0 anderes als beim Computer Integrated Manufacturing (CIM)?
Hüttl: CIM lief auf eine hochautomatisierte, zentral gesteuerte Produktion hinaus. Industrie 4.0 steht für Vernetzung und Individualisierung, was einer kopernikanischen Wende in den Fabrikhallen gleichkommt. Noch bestimmt der Produktionsprozess das Produkt, das millionenfach und gleichartig hergestellt wird. In der Industrie 4.0 dagegen bestimmt das einzelne Produktionsstück seinen individuellen Produktionsprozess. Industrie 4.0 ebnet deshalb den Widerspruch zwischen billigen Massenprodukten und teuren Einzelstücken ein. Sie ermöglicht die individuelle Produktion zu den Preisen der Massenfertigung. Dabei geht es um mehr als die Einführung neuer Technologien. Industrie 4.0 wird auch die Arbeit verändern, weshalb wir bei dem Thema eng mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten. Wir brauchen unter anderem neue Ansätze im Bildungssystem, um die Menschen für die künftige Arbeitswelt zu qualifizieren. Industrie 4.0 ist eine Chance für alternde Gesellschaften, wie wir sie in Deutschland haben. Aber natürlich müssen wir die Belegschaften mitnehmen. Weiterbildung wird deshalb immer wichtiger: Auch Universitäten und Hochschulen müssen Programme für Mitarbeiter entwickeln. Acatech experimentiert derzeit mit solchen Angeboten und startet zur Hannover Messe einen Online-Kurs „Hands-on Industrie 4.0“.
Gehen wir einmal davon aus, dass der Weg zur Umsetzung von Industrie 4.0 100 Kilometer lang ist. Welche Strecke haben wir dann bislang zurückgelegt? Was schätzen Sie?
Hüttl: Wir haben bisher wohl erst 15 Kilometer hinter uns. Sowohl bei der Robotik als auch bei der Künstlichen Intelligenz ist der Weg von der Forschung zur industriellen Umsetzung noch weit. ■
Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech)www.acatech.de
„Industrie 4.0 steht für Vernetzung und Individualisierung, was einer kopernikanischen Wende in den Fabrikhallen gleichkommt.“

Das Interview führte

40236107

Wolfgang Hess, Chefredakteur der Zeitschrift bild der wissenschaft. Bild: W. Scheible

Bei Innovationen noch Luft nach oben

40236108

Unsere Webinar-Empfehlung
Aktuelle Ausgabe
Titelbild mav Innovation in der spanenden Fertigung 2
Ausgabe
2.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Trends

Aktuelle Entwicklungen in der spanenden Fertigung

Alle Webinare & Webcasts

Webinare aller unserer Industrieseiten

Alle Whitepaper

Whitepaper aller unserer Industrieseiten


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de